Sagen

Sagen aus Altenschlirf

Die Weiße Frau vom Wilden Stein

Östlich in Altenschlirf, nahe der Betzenmühle, steigen am rechten Ufer der Altfell steile Basaltfelsen empor. In den Kluften dieser Felsen, dem Wilden Stein, befindet sich eine Höhle, die durch einen engen Spalt zugänglich ist. Hier haust die dicht behaarte Weiße Frau von Altenschlirf.

Sie ruht in ihrem Bette bei Nacht und bei Tag, ohne jemals dabei ihre Augen zu schließen. Doch will sie nie und nimmer betrachtet oder gar beobachtet werden. Wer es dennoch wagt, um den wird es für immer geschehen sein!

Trotz aller Warnungen vor diesem schaurigen Wesen konnte der kecke Müller aus der Betzenmühle seine Neugierde nicht bezwingen. Abermals und abermals schlich er um den Wilden Stein.

Eines Tages konnte er es nicht lassen. Vorsichtig schlich er zur Felsspalte. Voller Erwartung und wider allem Gehörten wagte er es, einen Blick in die Öffnung hinein zu werfen. Da lag sie, auf dichtem Moos, das weiße Haar wüst und zerzaust, ihr Körper mit Fellen bedeckt. Sie schien zu ruhen, die Weiße Frau. Plötzlich drehte sie sich um.

Mit ihren glutroten Augen blickte sie ihm zornig entgegen. Funkelnd, gleich glühender Kohlen, durchdrang ihn dieser Blick. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Voller Entsetzen sprang der Müller zurück und flüchtete in seine Mühle. Hier würde er sicher sein, so dachte er und verschloss Tür und Fenster. Er kauerte auf dem Bettkranz und versteckte sich hinter dem Vorhang. Die Weiße Frau aber verfolgte ihn bis zur Betzenmühle. Mit einer Gerte in ihrer Hand berührte sie die Mühlentür, die mit einem lauten Schlag in Stücke zersprang. Unaufhaltsam trat das grausame Wesen auf den Müller zu, schwang die Gerte abermals und traf ihn alsdann mit ihrem Hieb. Der Müller krümmte sich mit Ach und Klag. Dies war sein letzter Lebenstag.

Noch heute ist der Wilde Stein an genannter Stelle in Altenschlirf vorzufinden. Bisher sind jedoch keine Personen bekannt, die es jemals wieder gewagt hätten in die Felsspalte hineinzusehen. So kann uns auch niemand sagen, ob die Weiße Frau noch in ihrer Höhlenbehausung ruht.

Der Schafhöfer ohne Kopf

„Am Schafhof wannert‘s: An der Straße Herbstein – Altenschlirf, wo die Straße nach Ilbeshausen rechts abzweigt, liegt die Gemarkung „Am Schafhof“. Das Gelände gehörte früher 14 Altenschlirfer Bauern.
Das Eigentumsrecht wurde ihnen später von andrer Seite bestritten, und so kam es zum Prozess. Den haben die Altenschlirfer verloren, weil – so sagt man – einer einen falschen Eid geschworen hat. Der ist ihm aber schlecht bekommen. Nun schleicht der Mann zur Strafe um Mitternacht ohne Kopf da in den Fichten am Schafhof umher. Den Kopf trägt er unterm linken Arm; in der rechten Hand trägt er eine brennende Laterne und jagt so den vorübergehenden Angst ein.“ (Entnommen aus „So Leut sein mir in Vogelsberg und Schlitzerland“, Bd. 2 von Georg Michel, 1964 nach einer Überlieferung von Altbürgermeister Andreas Gerich aus Altenschlirf.)

Wie so oft bei Sagen, gibt es auch zum „Schafhöfer ohne Kopf“ weitere Versionen, die ganz andere Erklärungen der Entstehung bieten.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts brachte der 30-jährige Krieg große Armut und Hungersnot. Viele Menschen mussten sterben. Die Menschen des Vogelsbergs drohten im Kampf ums Überleben zu verrohen und sich gegenseitig zu zerstören. Zu dieser Zeit stand auf dem Grenzgebiet zwischen dem protestantischen Altenschlirf und dem katholischen Herbstein der Schafhof. So ist es sehr wahrscheinlich, dass der grausame Religionskrieg zwischen der katholischen Liga und der protestantischen Union genau hier ein Opfer fand. Unaufhaltsam stürmten die Soldaten den Schafhof, brannten ihn nieder und schlugen im Kampf seinem Besitzer den Kopf ab. Aus der unruhigen Zeit heraus fand der Schafhöfer selbst im Tode keine Ruhe. Seinen enthaupteten Kopf unter dem Arm tragend, schreitet er seither die Grenzen seines ehemaligen Gehöftes am Schafhof ab.

 
Oder? Vielleicht war doch alles ganz anders.
Der Streit um ein Stück Weideland machte den Schafhöfer aus Habgier zum Mörder. Hierfür wurde er selbst gerichtet und anschließend geköpft. Zu spät kam die Reue für seine Tat. Ruhelos umwandert er mit dem Kopf unter seinem Arm den Schafhof.

Oder? Nein!
War es nicht eine hübsche Magd, die unserem Schafhöfer den Kopf verdrehte? Er begehrte sie über alle Maßen. Doch die hübsche Magd hatte noch einen zweiten hartnäckigen Verehrer. Der Schafhöfer sah keinen anderen Ausweg, als diesen seinen Nebenbuhler heimtückisch zu ermorden. Man überführte den Schafhöfer alsbald. Zur Strafe musste er selbst seinen Kopf lassen. Seine arme Seele fand keine Ruhe und treibt ihn jede Nacht mit dem Kopf unter seinem Arm um den Schafhof.

Wie dem auch sei, Nacht für Nacht nimmt der Geist des Schafhöfers Gestalt an.

Wer dem Kopflosen begegnen sollte, braucht sich jedoch nicht fürchten.
Es genügt ihn anzusprechen und seine Gestalt löst sich in Nichts auf oder er verschwindet im dichten Nebel des Schafhöfer Weihers.

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